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I.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
II.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf legt dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Frage vor:
Ist Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 der Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (ABl. L 321/36; zukünftig: Richtlinie) dahingehend auszulegen,
dass den Anbietern anderer öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste als nummernunabhängiger interpersoneller Kommunikationsdienste
das Recht eingeräumt wird, die Vertragsbedingungen kraft Gesetzes einseitig zu ändern, und die Endkunden im Gegenzug hierzu ein Sonderkündigungsrecht erhalten,
oder setzt die Vorschrift ein bereits aus anderen Gründen bestehendes Recht der Anbieter, die Vertragsbedingungen einseitig zu ändern, voraus und regelt lediglich das sich daraus ergebende Sonderkündigungsrecht des Endkunden?
I.
21 Der Kläger, Dachverband der 16 Verbraucherzentralen der Länder und 27 weiterer verbraucherpolitischer Verbände in Deutschland und als Verbraucherschutzverband registriert, hat sich nach dem Unterlassungsklagegesetz gegen drei von der Beklagten in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen verwendete Klauseln gewandt, von denen im Berufungsverfahren nur noch folgende Klausel von Belang ist:
3„3. Änderung der Vertragsbedingungen
43.1 A. behält sich vor, die Vertragsbedingungen nach billigem Ermessen einseitig zu ändern.“
52 Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Änderungsvorbehalt verstoße gegen § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch und könne auch nicht mit § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz gerechtfertigt werden, weil diese Regelungen einen wirksamen Änderungsvorbehalt voraussetzten. Aus § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch folge, dass die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, nur Gültigkeit haben solle, wenn sie unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar ist. Insoweit sei die Inhaltskontrolle auch nicht gemäß § 307 Absatz 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch ausgeschlossen. Der Änderungsvorbehalt verstoße gegen § 307 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Bürgerliches Gesetzbuch, weil sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteilige.
63 Die genannten Vorschriften lauten wie folgt:
7§ 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz
8Hat ein Anbieter öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste sich durch Allgemeine Geschäftsbedingungen vorbehalten, einen Vertrag einseitig zu ändern und ändert er die Vertragsbedingungen einseitig, kann der Endnutzer den Vertrag ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist und ohne Kosten ändern, es sei denn, …
9§ 307 Bürgerliches Gesetzbuch
10(1) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.
11(2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung
121. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder
2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder sie ergänzende Regelungen vereinbart werden. Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein.
16§ 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch
17In Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist insbesondere unwirksam
18die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, wenn nicht die Vereinbarung der Änderung oder Abweichung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen zumutbar ist.
194 Der Kläger hat – soweit im Berufungsverfahren noch von Belang – beantragt,
20die Beklagte zu verurteilen,
211. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, diese zu vollstrecken an ihren Geschäftsführern,
22gegenüber Verbrauchern, in Bezug auf Verträge über Telekommunikationsdienstleistungen die Verwendung der folgenden oder einer dieser inhaltsgleichen Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, zu unterlassen:
23a) „A. behält sich vor, die Vertragsbedingungen nach billigem Ermessen einseitig zu ändern.“
245 Die Beklagte hat insoweit beantragt,
25die Klage abzuweisen.
26Sie hat die Auffassung vertreten, die mit dem Antrag zu 1. a) angegriffene Klausel entspreche dem Wortlaut des § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz, der Anbietern das Recht einräume, in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ein Änderungsrecht vorzusehen. Diese Vorschrift enthalte eine abschließende Regelung zum einseitigen Änderungsrecht der Telekommunikationsanbieter in deren Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Eine Überprüfung anhand der besonderen Vorschriften zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen sei ausgeschlossen, weil die angegriffene Änderungsklausel lediglich den Wortlaut dieser Regelung wiederhole. Die angegriffene Änderungsklausel halte im Übrigen einer derartigen Überprüfung stand, da sie den Kunden aufgrund der Einschränkung des Änderungsrechts auf Fälle „billigen Ermessens“ und dem als Gegengewicht eingeräumten Sonderkündigungsrecht nicht unangemessen benachteilige. § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz verstoße schließlich mit dem Erfordernis eines in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthaltenen Änderungsrechts gegen die Vorgabe der Vollharmonisierung des Art. 101 Absatz 1 der Richtlinie und sei deshalb entsprechend richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass er ein einseitiges Änderungsrecht ohne die sich aus § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch ergebenden Beschränkungen enthalte.
276 Das Landgericht hat die Klage insoweit abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die angegriffene Vertragsbedingung sehe keine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelung vor, so dass eine Inhaltskontrolle nach § 307 Absatz 3 Bürgerliches Gesetzbuch ausscheide. § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz setze voraus, dass in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ein einseitiges Änderungsrecht vorgesehen werden könne, und regele als Ausgleich für ein entsprechendes einseitiges Änderungsrecht die Kündigungskonditionen der Vertragspartner. Dies ergebe sich jedenfalls bei richtlinienkonformer Auslegung vor dem Hintergrund des Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie und des Gebotes der Vollharmonisierung in Art. 101 Absatz 1 Richtlinie. Selbst wenn man die Möglichkeit einer Inhaltskontrolle bejahte und § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch als anwendbar ansehe, so sei die Änderungsklausel zulässig, weil sie den Endnutzern als Gegengewicht zum Änderungsrecht der Beklagten ein kostenloses Sonderkündigungsrecht einräume, mittels dessen die Endnutzer das Vertragsverhältnis kündigen können, bevor die angekündigten Änderungen in Kraft treten.
287 Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er ist der Auffassung, Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie und § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz gewähre dem Unternehmer kein einseitiges Änderungsrecht, sondern setze ein solches voraus und regele lediglich die Rechtsfolgen. Es sei anerkannt, dass § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch auch bei Dauerschuldverhältnissen gelte. Wie aus Erwägungsgrund 258 Richtlinie hervorgehe, blieben die Vorschriften über die Prüfung Allgemeiner Geschäftsbedingungen von der Richtlinie unberührt. Er beantragt daher,
29in teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, diese zu vollstrecken an ihren Geschäftsführern,
30gegenüber Verbrauchern, in Bezug auf Verträge über Telekommunikationsdienstleistungen die Verwendung der folgenden oder einer dieser inhaltsgleichen Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, zu unterlassen:
31„A. behält sich vor, die Vertragsbedingungen nach billigem Ermessen einseitig zu ändern.“
328 Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
339 Die gemäß § 220 Telekommunikationsgesetz anhörungsberechtigte Bundesnetzagentur hat bisher keine Stellungnahme abgegeben.
34II.
3510 Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, wie Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 der Richtlinie auszulegen ist. Davon hängt nämlich wiederum die Auslegung des § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz ab. Mit der letztgenannten Vorschrift sollte Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 der Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden (vgl. Bundestags-Drucksache 19/26108 S. 289). Sie muss daher – soweit möglich – richtlinienkonform ausgelegt werden.
3611 Nach einhelliger Auffassung betrifft Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie trotz des schillernden Wortlautes „vorschlägt“ (im englischen „proposed“, im französischen „envisage“) lediglich oder zumindest vor allem den Fall der einseitigen Vertragsänderung durch den Unternehmer. Auch nach Auffassung des Klägers erfasst Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie jedenfalls auch den Fall eines einseitigen Änderungsrechts des Unternehmens. Dies ergibt sich letztlich aus Art. 105 Abs. 4 Unterabsatz 2 Richtlinie, der den Fall der Vertragsänderung mit Zustimmung des Kunden von der Kündigungsmöglichkeit ausdrücklich ausnimmt. Dass die vom Unternehmer „vorgeschlagene“ Vertragsänderung auch ohne Zustimmung des Kunden wirksam wird, ergibt sich bereits daraus, dass andernfalls ein Kündigungsrecht des Kunden sinnlos wäre, wenn ohne seine Zustimmung eine Vertragsänderung nicht wirksam wäre. Davon gehen auch die nationalen Umsetzungsgesetze aus (§ 57 Abs. 1 Satz 1 deutsches Telekommunikationsgesetz „einseitig zu ändern“; Art. 7.2 Abs. 1 niederländisches. telecommunicatiewet: „voordat een vorgenomen wijziging van een beding … van kracht wordt“; rule 89 (7) (12) irische European Union(Electronic Communications Code) Regulations 2022 [S.I. 444/2024: „implementation of any change“). Wenn der Kläger im Anschluss an den Wortlaut des Art. 105 Abs. 4 Richtlinie (ebenso der Wortlaut von rule 89 (7)) meint, ein Unternehmen müsse bei „Vorschlag“ einer Änderung in jedem Falle auf ein Kündigungsrecht bei Nichtzustimmung des Kunden hinweisen, überzeugt dies letztlich nicht; bei einem bloßen Angebot auf Vertragsänderung, das auch nach der geäußerten Auffassung des Unternehmers nur mit Zustimmung des Kunden wirksam wird, besteht kein Kündigungsrecht, dann wäre auch ein Hinweis darauf sinnlos, wenn nicht sogar irreführend. Wird der „Vorschlag“ des Unternehmens – vorbehaltlich einer rechtzeitigen Kündigung des Kunden – in jedem Falle wirksam, ganz gleich, ob der Kunde zustimmt oder nicht, ist der Kunde in jedem Falle auf sein Kündigungsrecht hinzuweisen. Die Zustimmung des Kunden wäre dann nur insoweit relevant, als sie dann ein Kündigungsrecht ausschlösse.
3712 Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie wird in Deutschland vielfach so ausgelegt, dass sie dem Anbieter ein einseitiges Änderungsrecht kraft Gesetzes einräumt (so neben dem angefochtenen Urteil auch Kiparski, in Gersdorf/Paal, BeckOK InfoMedR, 42. Ed., § 57 TKG 2021 Rn. 1a, 2, 10; derselbe CR 2020, 818 Rn. 16; s. auch OLG Frankfurt MMR 2020, 624).
3813 Möglich ist aber auch die gegenteilige Auslegung, wonach Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie lediglich die Rechtsfolgen eines – anderweitig, wohl nationalrechtlich, geregelten – einseitigen Änderungsrechts des Unternehmers regelt.
3914 Vorbild für ein einseitiges Änderungsrecht des Unternehmers bei Telekommunikationsverträgen bei gleichzeitigem Kündigungsrecht des Verbrauchers könnte Anhang Nr. 2 lit. b) Abs. 2 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates („Klauselrichtlinie“) sein, wonach lit. j) von Nr. 1 (der eine Klausel untersagt, die es dem Gewerbetreibenden gestattet, Vertragsbedingungen einseitig ohne triftigen und im Vertrag aufgeführten Grund zu ändern) einer Klausel nicht entgegensteht, die dem Gewerbetreibenden bei unbefristeten Verträgen ein derartiges Recht einräumt, wenn ihm gleichzeitig die Verpflichtung auferlegt wird, den Verbraucher hiervon rechtzeitig zu unterrichten, und es diesem freisteht, den Vertrag alsbald zu kündigen. Danach sind in Dauerschuldverhältnissen unionsrechtlich Klauseln nicht zu beanstanden, wenn diese dem Unternehmer ein einseitiges – nicht an triftige und im Vertrag genannte Gründe gebundenes – Änderungsrecht einräumen, sofern nur der Unternehmer den Verbraucher rechtzeitig informiert und diesem ein Kündigungsrecht eingeräumt wird. Bereits aus diesem Grunde hat der Verweis des Klägers auf Erwägungsgrund 258 Richtlinie auf die Richtlinie 93/13/EWG kein Gewicht.
4015 Wie Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie in anderen Mitgliedsstaaten ausgelegt wird, wird nicht vorgetragen. Art. 7.2 Abs. 1 des niederländischen Telecommunicatiewet lässt beide Lesarten zu (wie wird eine „wijziging voorgenomen“?), ähnliches gilt für reg. 89 (7) der irischen European Union (Electronic Communications Codes) Regulations 2022 (wie wird ein „change implemented“?).
4116 Der nationale Gesetzgeber hat bei der Umsetzung allerdings in § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz vorgesehen, dass dies nur dann gilt, wenn das Telekommunikationsunternehmen „sich durch Allgemeine Geschäftsbedingungen vorbehalten [hat], einen Vertrag einseitig zu ändern.“ Für diese Abweichung von der Richtlinie fehlt es an jeder Begründung. Der nationale Gesetzgeber ging damit erkennbar davon aus, dass dem Unternehmer ein einseitiges Änderungsrecht kraft Gesetzes – insoweit anders als möglicherweise die vollharmonisierte (Art. 101 Absatz 1 Richtlinie) Regelung des Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie – nicht eingeräumt werden sollte, ein derartiges Recht sich vielmehr aus anderen Quellen ergeben müsse. Er hat dabei nur Allgemeine Geschäftsbedingungen in den Blick genommen, andere mögliche Grundlagen wurden während der Gesetzesberatung nicht erörtert (vgl. Bundestags-Drucksache, a.a.O.). Der Gesetzgeber ist damit offensichtlich davon ausgegangen, dass nur Allgemeine Geschäftsbedingungen als Rechtsgrundlage für eine einseitige Vertragsänderung durch den Unternehmer in Betracht kommen.
4217 Welchen Inhalt diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen haben müssen, ist in der vorerwähnten Bundestags-Drucksache nicht angesprochen. Vom Wortlaut her sind zwei Lesarten möglich:
43- die erste – vom Landgericht unter Berücksichtigung einer richtlinienkonformen Auslegung bevorzugte – Lesart lautet, dass § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz weitergehende, insbesondere sich aus § 308 Nr. 4 Bürgerliches Gesetzbuch ergebende Anforderungen ausschließt, § 57 Abs. 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz insoweit also lex specialis ist,
44- die zweite – vom Kläger bevorzugte – Lesart, dass § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz die allgemeinen Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen, insbesondere § 308 Nr. 4 Bürgerliches Gesetzbuch, nicht ausschließt.
4518 § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch setzt Anhang Nr. 1 Buchstabe j) der Klauselrichtlinie um. Allerdings wird diese Vorschrift – anders als die entsprechende Vorschrift in der Klauselrichtlinie – nahezu uneingeschränkt auch bei Dauerschuldverhältnissen angewandt (vgl. Wurmnest in Münchener Kommentar BGB, 5. Aufl., § 308 Nr. 4 Rn. 5; Grüneberg, BGB, 83. Aufl., § 308 Rn. 24). Dies bedeutet, dass auch bei Verträgen über Dauerschuldverhältnisse einseitige Änderungsrechte des Unternehmens nur dann in Allgemeinen Geschäftsbedingungen wirksam vereinbart werden können, wenn ihm hierfür triftige Gründe zustehen und diese in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen benannt werden. Dass als Ausgleich dem Kunden bei einer Änderung ein Kündigungsrecht zugestanden wird, reicht nicht aus. Dies ist im Rahmen der Klauselrichtlinie unbedenklich, da diese nur einen Mindestschutz des Verbrauchers vorschreibt, Art. 8 (vgl. Wurmnest, a.a.O.).
4619 Die Vorschrift des § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch greift allerdings nur dann ein, wenn es um die Änderung der Leistungen des Unternehmers geht; Klauseln über Änderungen der Leistungen des Verbrauchers (Insbesondere Preisänderungen) sind an § 309 Nummer 1 beziehungsweise § 307 Bürgerliches Gesetzbuch zu messen (Wurmnest, a.a.O., § 308 Nr. 4 Rn. 7). Die Vorschrift des § 309 Nummer 1 Bürgerliches Gesetzbuch greift bei einem Dauerschuldverhältnis – wie es hier vorliegt – nicht ein (vgl. Wurmnest, a.a.O., § 309 Nr. 1 Rn. 23; Grüneberg, a.a.O., § 309 Rn. 6). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs werden jedoch an die Zulässigkeit einer Preisänderungsklausel nach § 307 Bürgerliches Gesetzbuch hohe Anforderungen an die Konkretisierung von Grund und Umfang gestellt (vgl. Wurnnest, a.a.O., § 309 Nr. 1 Rn. 24/25; Grüneberg, a.a.O., § 309 Rn. 8). Eine Ausnahme hiervon besteht nur dann, wenn die Änderungsgründe nicht beschrieben werden können (Wurmnest, a.a.O., § 309 Nr. 1 Nr. 26). Soweit das Landgericht meint, das Lösungsrecht des Verbrauchers reiche nach nationalem Recht aus, trifft dies nicht zu (Wurmnest, a.a.O., § 309 Nr. 1 Rn. 28).
4720 Sieht man das Problem nur nationalrechtlich, trifft die Rechtsaufassung des Klägers zu. Es sind keine Gründe dafür vorhanden, dass der nationale Gesetzgeber den Schutz des § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch in Telekommunikationsverträgen beseitigen wollte (so auch Kiparski, in Gersdorf/Paal, a.a.O., § 57 TKG Rn. 10, der aber auf eine richtlinienkonforme Auslegung nicht eingeht; vgl. ablehnend zu § 675g Bürgerliches Gesetzbuch BGH NJW 2021, 2273 Rn. 12 ff., der dort allerdings auch keine unionsrechtlichen Hinderungsgründe sieht). Dafür ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (Bundestags-Drucksache a.a.O.) nichts. Die in Rede stehende Klausel nennt keine triftigen Gründe im Sinne des § 308 Nummer 4 Bürgerliches Gesetzbuch; auch als Preisanpassungsklausel wäre sie unwirksam, da sie weder Grund noch Kriterien für die Höhe der Anpassung nennt; für eine Unmöglichkeit einer Angabe hierfür ist nichts ersichtlich.
4821 Anders wäre es nur dann, wenn Art. 105 Absatz 4 Unterabsatz 1 Richtlinie auch das Änderungsrecht des Unternehmers als solches regeln würde. Geht man von dieser Lesart aus, wäre die Regelung vollharmonisiert (Art. 101 Absatz 1 Richtlinie). Dies bedeutet, dass – anders als bei der Klauselrichtlinie (Art. 8) – der nationale Gesetzgeber dem Verbraucher keinen weitergehenden Schutz zubilligen könnte. Dann wäre § 57 Absatz 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz möglichst richtlinienkonform auszulegen. Zwar könnte wegen des eindeutigen Wortlauts das Erfordernis eines in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarten einseitigen Änderungsrechts nicht hinweginterpretiert werden, der Inhalt der entsprechenden Klausel könnte dann aber in der bloßen Wiederholung des Gesetzestextes bestehen, auch inhaltlich könnten keine triftigen Gründe für eine einseitige Änderung verlangt werden. Der Wortlaut des Gesetzestextes stünde dem nicht entgegen. Ein eindeutig entgegenstehender Willen des Gesetzgebers, der eine richtlinienkonforme Auslegung ausschließen würde, lässt sich nicht feststellen. Auch der Kläger nennt keine Gründe dafür, dass eine möglichst richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich wäre.
49… … …