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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 15.07.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2022, soweit diese Kindergeld für den Monat April 2022 betreffen, verpflichtet, Kindergeld für die Tochter J. für den Monat April 2022 festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob sich der Kindergeldanspruch der Klägerin auf die ersten drei oder vier Monate nach ihrer Einreise erstreckt.
2Die Klägerin ist die Mutter ihrer am 00.00.2016 geborenen Tochter J.. Die Klägerin und ihre Tochter sind bulgarische Staatsangehörige. Sie sind am 20.01.2022 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und waren zunächst bei der H. in der G.-straße, M. gemeldet. Ab dem 15.02.2022 waren sie in die städtische Wohnungslosenunterkunft E.-straße, M. per ordnungsbehördlicher Einweisung eingewiesen und dort wohnhaft. Unter ihrer aktuellen Anschrift ([…]) sind die Klägerin und ihre Tochter seit dem 12.08.2022 gemeldet.
3Die Klägerin war vom 21.01.2022 bis zum 03.02.2022 (Kündigungsschreiben vom 01.02.2022) bei der X. GmbH & Co. KG und vom 14.02.2022 bis zum 17.02.2022 bei der N. GmbH beschäftigt. Bei der X. GmbH & Co. KG arbeitete sie im Januar 2022 insgesamt 10,5 Stunden bei einem Bruttostundenlohn von 11,55 Euro; im Februar 2022 erfolgte keine Tätigkeit für diesen Arbeitgeber. Bei der N. GmbH arbeitete die Klägerin 4,5 Stunden bei einem Bruttostundenlohn von 10,55 Euro. Ab dem 13.04.2022 nahm die Klägerin an dem Projekt W. der R. GmbH teil. Diese berufsfördernde Maßnahme umfasste unter anderem die Arbeitsvermittlung und Jobsuche sowie die Begleitung zu Terminen beim JobCenter. Die Klägerin und ihre Tochter beziehen seit dem Monat März 2022 fortlaufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
4Mit schriftlicher Erklärung vom 28.07.2022 bestätigte die Klägerin, keine Familienleistungen aus Bulgarien zu beziehen und keinen Kontakt zum Vater ihrer Tochter zu haben, dessen Wohnort ihr unbekannt sei.
5Den Kindergeldantrag der Klägerin vom 29.04.2022 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15.07.2022 ab dem Monat März 2022 ab. Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 23.11.2022 als unbegründet zurück.
6Der dagegen erhobenen Klage hat die Beklagte durch die Festsetzungen von Kindergeld für den Monat März 2022 sowie für die Monate Juni bis einschließlich November 2022 mit Änderungsbescheiden vom 07.07.2023 bzw. vom 13.07.2023 abgeholfen. Mit Schriftsatz vom 17.04.2024 hat die Klägerin die Klage hinsichtlich des Kindergelds für den Monat Mai 2022 zurückgenommen. Die Verfahren wurden insoweit abgetrennt und eine Kostenentscheidung getroffen (Beschluss vom 24.07.2023) bzw. abgetrennt und eingestellt (Beschluss vom 18.04.2024). Streitig ist somit noch der Kindergeldanspruch der Klägerin für den Monat April 2022.
7Mit weiterem Bescheid vom 07.07.2023 hat die Beklagte zudem Kindergeld für die (nicht streitbefangenen) Monate Januar und Februar 2022 festgesetzt.
8Die Klägerin beantragt,
9die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 15.07.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2022, soweit diese Kindergeld für den Monat April 2022 betreffen, zu verpflichten, Kindergeld für ihre Tochter J. für den Monat April 2022 festzusetzen.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Aus der Weisung des Bundeszentralamts für Steuern (BZSt) vom 28.09.2022 zum Ausschluss der Kindergeldzahlungen nach § 62 Abs. 1a Einkommensteuergesetz (EStG) nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 01.08.2022 (C-411/20) folge, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG (nur) in den ersten drei Kalendermonaten nach Begründung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bestehe. Die Weisung impliziere eine kalendermonatsbezogene Betrachtung; eine tagbezogene Betrachtung des Zeitraumes sei nicht möglich. Entgegen des Hinweisschreibens des Berichterstatters vom 22.03.2024 führe das EuGH-Urteil nicht dazu, dass für die ersten vier Kalendermonate (hier: Januar bis einschließlich April 2022), in die der dreimonatige Zeitraum des Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (ABl. EG 2004, Nr. L 158, 77, sog. Freizügigkeitsrichtlinie) falle, Kindergeld zu gewähren sei.
13Mit Schriftsätzen vom 03.02.2023 und vom 24.04.2024 haben die Beklagte bzw. die Klägerin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
15Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 15.07.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, Kindergeld zugunsten der Klägerin für ihre Tochter J. für den Monat April 2022 festzusetzen (§ 101 Satz 1 FGO).
16Die Klägerin hat nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 in Verbindung mit § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für den Monat April 2022 einen Anspruch auf Kindergeld für ihre Tochter. Die Beteiligten gehen unstreitig und zutreffend davon aus, dass die Klägerin und ihre im Streitmonat sechs Jahre alte, berücksichtigungsfähige Tochter im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatten, sodass das Gericht insoweit von weiteren Ausführungen absieht.
17Zu Unrecht geht die Beklagte jedoch davon aus, dass das Urteil des EuGH vom 01.08.2022 (C-411/20, ABl. EU 2022, Nr. C 408, 7, DStRK 2022, 228) – bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG – dazu führt, dass nur für die ersten drei Kalendermonate und nicht auch für den vierten Kalendermonat, in den der dreimonatige Zeitraum ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts fällt, ein Anspruch auf Kindergeld besteht.
18Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Staats, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet, für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld. Dies gilt nicht, wenn er nachweist, dass er inländische Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 EStG mit Ausnahme von Einkünften nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erzielt (§ 62 Abs. 1a Satz 2 EStG). Nach Ablauf des in § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG genannten Zeitraums hat er gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war.
19Mit Urteil vom 01.08.2022 (C-411/20, ABl. EU 2022, Nr. C 408, 7, DStRK 2022, 228) hat der EuGH entschieden, dass Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. EU 2004, Nr. L 166, 1) in der für den Streitmonat maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004) dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats – wie hier der Regelung des § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 EStG – entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 – hier Kindergeld – in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden. Der EuGH hat zur Begründung seines Urteils insbesondere darauf abgestellt, dass sich auch ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger, der sich während der ersten drei Monate seines Aufenthalts gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Aufnahmemitgliedstaat für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen im Sinne der VO Nr. 883/2004 auf den in Art. 4 der VO Nr. 883/2004 vorgesehenen Grundsatz der Gleichbehandlung berufen kann. Eine unmittelbare Diskriminierung eines solchen Unionsbürgers liegt nach dem EuGH vor, wenn eine Regelung des Aufnahmemitgliedstaats diesen Bürger, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, deshalb von Familienleistungen im Sinne der VO Nr. 883/2004 ausschließt, weil er wirtschaftlich nicht aktiv ist, während derselbe Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen, auch wenn sie wirtschaftlich nicht aktiv sind, solche Leistungen gewährt, sobald sie, nachdem sie nach dem Unionsrecht von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, in diesen Mitgliedstaat zurückkehren.
20Nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie hat ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen hat, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats – dazu zählt nicht das Kindergeld – nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Die Umsetzung in nationales Recht befindet sich in § 2 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU in der bis zum 24.04.2023 gültigen Fassung bzw. in § 2a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU in der ab dem 25.04.2023 gültigen Fassung. Danach ist für den Aufenthalt von Unionsbürgern von bis zu drei Monaten der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses ausreichend.
21Die am 20.01.2022 eingereiste Klägerin und ihre Tochter waren demnach in den ersten drei Monaten nach ihrer Einreise zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt, ohne dass es auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU angekommen wäre. Dabei ist der Zeitraum „von bis zu drei Monaten“ taggenau zu ermitteln, sodass er im vorliegenden Fall bis zum Ablauf des 20.04.2022 andauerte. Andernfalls – sollte der Zeitraum von bis zu drei Monaten den Kalendermonat der Einreise und die beiden folgenden Kalendermonate umfassen – würde es – wofür weder ein rechtlicher Anhaltspunkt ersichtlich ist noch (außerhalb des Kindergeldrechts) eine tatsächliche Notwendigkeit besteht – einen nicht nur unwesentlichen Unterschied machen, ob ein Unionsbürger zu Beginn oder zum Ende eines Kalendermonats einreist.
22Vor diesem Hintergrund ist auch der „Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums“ im Sinne des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG taggenau zu ermitteln. Hierfür spricht auch der Wortlaut des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG, der den Zeitraum der „ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts“ an ein Ereignis anknüpft, das in den Lauf eines bestimmbaren Tages fällt. Bei der von der Beklagten vertretenen Auffassung würde der Kindergeldanspruch für den streitigen Monat April 2022 von weiteren – im vorliegenden Fall unstreitig nicht erfüllten– Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU abhängig gemacht, obwohl sich die Klägerin und ihre Tochter im Monat April noch mindestens einen Tag, hier sogar 20 Tage, nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU in der bis zum 24.04.2023 gültigen Fassung rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben. Nach § 66 Abs. 2 EStG wird das Kindergeld monatlich vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen. Daraus ergibt sich, dass Kindergeld für jeden Monat zu gewähren ist, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wenigstens an einem Tag erfüllt sind (vgl. BFH, Beschluss vom 08.03.2002 VIII B 185/01, BFH/NV 2002, 1289; Urteil vom 19.04.2012 III R 42/10, BFHE 238, 24). Hier erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG in den ersten vier Kalendermonaten, in denen ihr rechtmäßiger Aufenthalt von drei Monaten nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU fällt. Die einschränkende Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG „greift“ erst ab dem 21.04.2022 und wird – kindergeldrechtlich – erst ab dem Monat Mai relevant.
23Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
24Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
25Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
26[…] […] […]